Welthandel: Fulminantes Comeback
Der globale Lockdown im Frühjahr 2020 versetzte den Welthandel in eine Schockstarre. Wegbrechende Nachfrage, gestörte Lieferketten und temporär geschlossene Fabriken ließen das Welthandelsvolumen zwischen Dezember 2019 und Mai 2020 um 16 % einbrechen. Der Rückgang stand im Hinblick auf Ausmaß und Geschwindigkeit jenem während der Finanzkrise in nichts nach. Zwar vermitteln Berichte von Halbleiter-Lieferengpässen und die Bilder des zeitweise geschlossenen Suez-Kanals den Eindruck von Gegenwind für den Welthandel, aber die Schlagzeilen sind fern der Realität!
Welthandel in lichten Höhen
Quelle: CPB, RBI/Raiffeisen Research; Welthandelsvolumen (Güter, indexiert, 2010 = 100) |
Konjunkturdynamik wirkt schneller als strukturelle Verschiebungen
Zwar ließen unmittelbar nach dem globalen Lockdown diskutierte Re-Regionalisierungen bis hin zu Re-Nationalisierungen der Wertschöpfungsketten zunächst eher auf einen Rückbau der internationalen Arbeitsteilung schließen. Corona hätte sich nach dieser Lesart als endgültiger Trendbruch für die Globalisierung und den Welthandel erweisen können, der schon vor Ausbruch der Pandemie angesichts der globalen Industrieschwäche ins Stocken geraten war. Tatsächlich aber befindet sich der globale Warenaustausch seit dem freien Fall im Vorjahr kräftig im Aufwind, auch die seit Herbst 2020 zu beobachtenden und derzeit andauernden regionalen Lockdowns (vornehmlich in Europa) änderten daran nichts. Vielmehr konnte im Jänner ein Allzeithoch der Welthandelsvolumina markiert werden. Mit dem fulminanten Comeback hat sich der Welthandel damit nicht nur viel schneller vom Einbruch des Frühjahrs 2020 erholt als die Weltwirtschaft (BIP) insgesamt. Längst vergessen ist auch die dem Einbruch vorangegangene Schwächephase des globalen Handels bzw. der globalen Industrie. Die Erholung des Welthandels war somit eine Erholung im Zeitraffer: Dauerte es im Nachgang der Finanzkrise noch etwa 2 Jahre, um das Vorkrisenniveau wieder zu erreichen, waren es diesmal nur 6 Monate!
Industrielle Resilienz, China und die USA aktuelle Stützen des globalen Handels
Während der Rebound des Welthandels im Sommer 2020 Hand in Hand ging mit dem lockerungsbedingten Rebound der globalen Konjunktur, ist seit dem (Spät-)Herbst eine Entkoppelung zu beobachten. Denn trotz regionaler Lockdowns setzte der Welthandel seinen Höhenflug fort. Was sind die Gründe dafür?
Erstens ist dies Spiegelbild einer gewissen industriellen Resilienz angesichts zielgerichteter Lockdown-Maßnahmen (Fokus auf konsumnahe Dienstleistungen) und einem professionelleren Umgang mit Restriktionen und Infektionen in den Industriebetrieben. (Vorsorgliche) Werksschließungen, wie sie im ersten Lockdown zu beobachten waren und nicht selten gesamte Lieferketten zum Stillstand brachten, sind nun kein Belastungsfaktor mehr für den Welthandel. So lag die globale Industrieproduktion bereits im November wieder auf dem Vorjahresniveau. Der industrielle Aufwärtstrend hat sich auch danach fortgesetzt, wobei der deutliche Anstieg im Jänner (7,5 % p.a.) maßgeblich dem chinesischen Basiseffekt geschuldet ist, verzeichnete China doch im Jänner 2020 und damit etwas früher als Europa/die USA den pandemiebedingten Konjunkturtiefpunkt. Zweitens ist der dynamische Warenhandel auch Spiegelbild der soliden Konjunktur in den USA und in China, deren Volkswirtschaften seit Herbst weitaus geringeren (bis fast gar keinen) Restriktionen ausgesetzt waren bzw. sind als in Europa. So standen diese beiden Länder im Jänner für fast drei Viertel des gesamten globalen Importwachstums von 3,9 % p.a. China und die USA gleichen somit aktuell die Nachfrageschwäche der übrigen entwickelten Volkswirtschaften – insbesondere der Eurozone – aus. Für 2021 sind in den aktuellen globalen "Wachstumstreibern" USA und China gemäß jüngsten IWF-Projektionen (World Economic Outlook, 6. April) sogar beachtliche BIP-Zuwachsraten von 6 % bzw. 8 % wahrscheinlich (in China das höchste Wachstum seit 2011; siehe dazu auch einen aktuellen Kommentar von Raiffeisen Research). Und drittens profitiert der globale Handel von den aktuellen Nachfrageverschiebungen insbesondere im Konsumbereich, da angesichts fortgesetzter Lockdowns und Reisebeschränkungen Konsumgüter an die Stelle konsumnaher Dienstleistungen getreten sind (neuer Flatscreen statt Kino-Besuch). So wird das Wachstum der globalen Exporte aktuell fast ausnahmslos von den asiatischen Schwellenländern und insbesondere China getragen.
Europa weniger dynamisch
Quelle: RWI/ISL, RBI/Raiffeisen Research; RWI/ISL-Containerumschlag-Index (Index, Jän. 16 = 100); Nordrange-Index: Umschläge Häfen Le Havre, Zeebrugge, Antwerpen, Rotterdam, Bremen/Bremerhaven, Hamburg |
Frachtraten: Preise explodieren
Quelle: Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research; Frachtraten in USD/TEU |
Lieferengpässe: Welthandel Opfer des eigenen Erfolges
Der Anstieg des Handelsvolumens seit Mai 2020 erfolgte mit einer Geschwindigkeit, mit der die Frachtkapazitäten kaum mithalten konnten. Die emporgeschnellte Nachfrage hat auch die Hochsee-Frachtraten in die Höhe schießen lassen, die derzeit mehr als doppelt so hoch sind wie im Durchschnitt seit 2010. Transportkapazitäten wie auch branchenspezifische Produktionsengpässe (z.B. Halbleiter) stellen somit aktuell die zentralen limitierenden Faktoren dar, die einer (noch) stärkeren Industrie- und Handelsdynamik im Wege stehen. Vor diesem Hintergrund sind auch die jüngst überraschend schwach ausgefallenen Zahlen zur Februar-Industrieproduktion in (Teilen der) Eurozone zu sehen. Diese sollten weniger Ausdruck einer beginnenden nachfrageseitigen Schwächephase denn vielmehr Spiegelbild der genannten angebotsseitigen Beschränkungen sein. Denn dass für die Industriebetriebe steigende Inputkosten und längere Lieferzeiten ein immer drängenderes Thema werden, zeigen bereits seit einigen Monaten die Einkaufsmanagerumfragen (PMI-Umfragen) bzw. die entsprechenden Sub-Komponenten. So hatten im März in der Eurozone so viele Industriebetriebe wie nie zuvor mit Lieferverzögerungen zu kämpfen und damit noch mehr als im Corona-Hoch April 2020 (!), als es durch die Pandemie zu Unterbrechungen der Lieferketten kam. Wichtig zu erwähnen ist jedoch, dass verzögerte Lieferzeiten im Frühjahr 2020 Ausdruck der Lockdown bedingten Verwerfungen waren, während Lieferverzögerungen aktuell ein nicht mit der Nachfrage Schritt haltendes Angebot widerspiegeln.
Lieferzeiten so lange wie nie zuvor ... in Entwickelten Volkswirtschaften
Quelle: Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research; Industrie PMI Subkomponente Lieferzeiten |
Die Melange aus gestiegenen Transportkosten und Angebotsengpässen hat letztendlich einem spürbaren Anstieg der Einkaufspreise Vorschub geleistet. Die Zeiten, in denen internationaler Handel und die Globalisierung im Allgemeinen disinflationär wirkten, dürften somit eine kurzfristige Unterbrechung erfahren, wenn auch (langfristig) keinen Abbruch. Damit erhöht sich tendenziell der Aufwärtsdruck auf die Konsumentenpreise, obgleich eine nachhaltige und vollständige Weitergabe an die Endverbraucher angesichts des zumeist sehr kompetitiven Wettbewerbsumfelds (insbesondere auch in Post-Impfungs-Lockerungsphasen) sowie der noch vorhandenen Outputlücken wohl nicht zu erwarten ist bzw. nicht von Dauer sein dürfte.
Ausblick: Welthandel wieder Motor der globalen Konjunktur
Das Wachstum der Weltwirtschaft in den Jahren nach der Finanz- und Eurokrise war nicht vorrangig exportgetrieben, die Zuwachsraten des Welthandels blieben mitunter deutlich hinter jenen der globalen Konjunktur zurück. Insbesondere der Importbedarf asiatischer Schwellenländer fiel angesichts eines weniger kapitalgetriebenen Wachstums verglichen mit den frühen Nullerjahren deutlich geringer aus. Den Tiefpunkt dieser Entwicklung – 2020 außen vor gelassen – markierte das Jahr 2019, als sich zur strukturellen Verlangsamung des Welthandels die globale Industrieschwäche gesellte. Industrie und Welthandel stellen im weiterhin von regionalen Lockdowns geprägten Konjunkturumfeld derzeit aber eine stabile Stütze dar. Doch wird sich der globale Handel auch nach einer gewissen konjunkturellen Normalisierung als stabiler Pfeiler der Weltkonjunktur erweisen oder wieder an die Schwächephase vor Pandemiebeginn anknüpfen?
Kurzfristig könnten zwar die knappen Produktionskapazitäten essenzieller Güter in der Produktionskette für ein Abflauen der Industrie- und Handelsdynamik führen. Denn die letzten Wochen haben gezeigt, dass das Fehlen kleinster Bauteile, wie Halbleitern, ganze Automobilwerke zum Stillstand bringen kann. Eine Umkehr des positiven Trends sollte dies jedoch nicht zur Folge haben.
IWF: Outperformance Welthandel vs. globale Konjunktur auch 2022
Quelle: Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research |
Handelsdynamik kurzfristig eher positiv für (Ost-)Europa
Ungeachtet dessen bleibt der kurz- und mittelfristige Ausblick für den Welthandel positiv. Im Einklang mit seinem positiven globalen Konjunkturbild hat der IWF im Rahmen des World Economic Outlook auch eine optimistische Schätzung des Welthandels präsentiert. Dieser sollte 2021 und 2022 deutlich stärker als das globale BIP zulegen. Damit ist der Währungsfonds insbesondere für das kommende Jahr sehr positiv gestimmt für die globale Handelsdynamik. Denn während die für 2021 prognostizierte „Outperformance“ des Welthandels gegenüber der globalen Konjunktur spiegelbildlich zum stärkeren Einbruch des Handelsvolumens im Vorjahr zu sehen ist und somit nur folgerichtig erscheint, ist die IWF-Prognose einer auch 2022 fortbestehenden Outperformance auffällig. Weiterhin Unterstützung sollte das sich mit fortschreitenden Lockerungen bessernde konjunkturelle Umfeld liefern, trotz absehbarer Normalisierung des Konsumverhaltens, sobald konsumnahe Dienstleistungen wieder zur Verfügung stehen. Zwar dürfte sich dann der relative Bedarf an Konsumgütern verringern, nicht aber der absolute. Der allgemeine Konjunkturrebound, den wir ab Jahresmitte erwarten, sollte zudem den Bedarf nach Industriegütern nochmals ansteigen lassen. Zwar dürfte sich das zunächst vorranging in den Frachtraten bemerkbar machen. Früher oder später sollten die Transportkapazitäten aber an die Nachfrage angepasst werden können.
Ein solches Szenario, das über einen längeren Zeitraum merkliche Zuwachsraten des Welthandels impliziert, haben wir in den letzten Jahren nicht nachhaltig gesehen. Die skizzierte Dynamik des globalen Warenverkehrs sowie der Industriekonjunktur sind kurzfristig wachstumsstützend bzw. -fördernd für die in Summe handelsoffene EU und vor allem für industrielastige Länder wie Deutschland, Österreich oder die Region Zentral- und Osteuropa. Von den im Gleichklang mit dieser Dynamik steigenden Energie- und Rohstoffpreisen (v.a. Öl, Stahl) profitieren auch die rohstofforientierten Länder wie Russland und die Ukraine. Die Gretchenfrage wird aber sein, inwiefern die Anstiege bei Transportkosten und Energiepreisen nicht auch zu Margendruck in für Zentral- und Südosteuropa relevanten Industrien führen. Und hier könnten Aktivitäten zu Beginn der Wertschöpfungsketten stärker leiden als jene an deren Ende.
Handelsoffenheit (% des BIP) |
Quelle: Weltbank, RBI/Raiffeisen Research; Handel in Gütern und Dienstleistungen |
Politik Unterstützung und Risiko zugleich
Prinzipiell sollte sich die positive Dynamik der Industriekonjunktur und des Welthandels angesichts der Unterstützung durch massive staatliche US-Investitionen (und absehbarer Spill-Over Effekte) und dann später auch verstärken Investitionen in der EU noch über 12-36 Monate fortsetzen. Hierdurch sollte die Phase der weniger von Kapitalgütern getriebenen Expansion in den Emerging Markets der Vor-COVID-Zeit von den Entwickelten Volkswirtschaften in den kommenden Jahren deutlich überkompensiert werden. Die große Unbekannte stellt hingegen weiterhin die (Geo-)Politik dar. In der Pandemie vielerorts nochmals forcierte Abschottungstendenzen bergen das Potenzial für gewissen Gegenwind. Die Pandemie hat dazu geführt, dass Handelsbeschränkungen ausgebaut worden sind und insbesondere der Export medizinischer Güter nun mitunter nicht mehr so geräuschlos erfolgt wie früher. Ferner wird die kritische bzw. systemrelevante Produktion seit Corona noch großzügiger definiert, was dessen Rückverlagerung begünstigt. Gleichzeitig gilt jedoch: Trotz der vielfach geäußerten Forderung, einzelne Stufen der Liefer- und Wertschöpfungsketten näher an den oder in den Heimatmarkt zurück zu verlagern (Nearshoring), sind dem bisher kaum Taten gefolgt. Für den mittel- und langfristigen Ausblick ist von Relevanz, dass die US-chinesischen Spannungen bestehen bleiben, auch wenn wir zumindest in 2021 durch Eigeninteressen in der Erholungsstärkung keine deutliche Verschärfung erwarten. Zudem könnte die EU im Zuge einer stärkeren Einbindung der westlichen Partner durch die USA in die unbequeme Position geraten, handelspolitisch stärker Farbe bekennen zu müssen.