Perspektiven: Was kommt nach dem anstrengungslosen Verschuldungsabbau?

Trotz „koste es, was es wolle“ und „niemand wird alleine gelassen“: Der historisch einmalige Rückenwind bestehend aus niedrigen Zinszahlungen und hoher Inflation sorgte in der Eurozone 2021 & 2022 für einen „anstrengungslosen“ Verschuldungsabbau. Der doppelte Rückenwind für die Staatsfinanzen nimmt zwar ab, wird in den nächsten Jahren aber weiterhin beträchtlich sein. Aus fundamentalen Gesichtspunkten spricht also wenig dafür, dass das Thema Staatsverschuldung auf kurze und mittlere Sicht Märkte und Medien in Atem halten wird. Auf längere Sicht kann sich ein fiskalisches „weiter so“ dennoch fast kein Euroland leisten.

„Anstrengungsloser“ Rückgang der Staatsverschuldung dank doppeltem Rückenwind

Von „koste es, was es wolle“ bis hin zu „niemand wird alleine gelassen“: Nicht kleckern, sondern klotzen war das Motto der europäischen wie auch der österreichischen Fiskalpolitik in den letzten drei Jahren des kontinuierlichen Ausnahmezustandes. Denn egal ob wirtschaftliche Folgen von Lockdowns oder hohe Energierechnungen – die Regierungen ließen Haushalte und Unternehmen nicht im Regen stehen. Das beherzte Eingreifen der Finanzminister in Krisenzeiten ist seit Anfang 2020 damit zur einzig verlässlichen Konstante geworden. Aber auch wenn in den letzten Jahren auf ein Hilfspaket alsbald das nächste folgte: „Wumms“, „Doppelwumms“ & Co. vermochten es nicht, die Staatsfinanzen zu erschüttern. Das gilt auch für Euroländer wie Italien, dessen fiskalischem Fundament in den Jahren vor der Pandemie gemeinhin nur bedingt Krisenfestigkeit attestiert worden ist. Denn zwei Krisen später ist nicht einmal der italienische Schuldenberg ins Wanken geraten, eine „Eurokrise 2.0“ ist ungeachtet des im Jahr 2020 gesehenen deutlichen Schuldenanstiegs und der in vollem Gange befindlichen Zinswende kaum ein Thema.

Eurozone: Sinkende Verschuldungsquote trotz hoher Defizite*
* 2022-2024 Prognose des IWF (April 2023)
Quelle: IWF (World Economic Outlook), RBI/Raiffeisen Research

Waren die Warnungen also übertrieben? Richtig ist, dass sich die Staatsschuldenquote in der Eurozone nach dem historisch einmaligen Anstieg von 84 % des BIP im Jahr 2019 auf 97 % des BIP nur ein Jahr später bereits im zweiten Jahr der Pandemie (2021) wieder auf einen Abwärtstrend begeben hat, der sich gemäß Prognosen des IWF (April 2023) wie auch der EU-Kommission (November 2022) in den nächsten Jahren fortsetzten wird. 2024 dürfte die Verschuldungsquote in der Eurozone bereits dem Vor-Corona Niveau näher sein als dem rekordhohen Niveau des Jahres 2020. Die fiskalischen Kollateralschäden von Gesundheits- und Energiekrise wären damit fast zur Hälfte behoben – trotz einer Fiskalpolitik, die Haushalten und Unternehmen selbst 2024 noch stärker unter die Arme greift als vor der Pandemie (niedrigere strukturelle Primärsalden). Gleichwohl dürfte nach Einschätzung des IWF die Schuldenlast der Währungsunion selbst 2028 (Ende des Prognosehorizonts) noch etwas über dem Vor-Corona Niveau liegen.

Möglich wird dieser anstrengungslose Abbau der Verschuldungsquoten durch den doppelten Rückenwind historischen Ausmaßes, von dem die Staatsfinanzen seit 2021 profitieren (siehe nachfolgende Grafik) und der sinkende Staatsschuldenquoten quasi „unvermeidbar“ macht: Hohe Inflation (bzw. hohes Nominalwachstum) und weiterhin niedrige Zinsbelastung.

Eurozone: „Anstrengungsloser“ Abbau der Schuldenquoten durch doppelten Rückenwind*
* Differenz impliziter Zinssatz und nominales BIP-Wachstum (i-g); Basisszenario: 2022-2024 Prognose der EU-Kommission (Nov. 2022) für i bzw. IWF (Apr. 23) für g; Niedrige Inflation: Inflation (BIP-Deflator) entspricht bereits ab 2022 Durchschnitt 2013-2019; Höhere Durchschnittszinsen: Impliziter Zinssatz entspricht bereits ab 2022 dem derzeitigen Marktzinsniveau (gewichteter Durchschnitt EA-Länder Jän.-Mär. 2023)
Quelle: EU-Kommission (Ameco), IWF (World Economic Outlook), Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research

Tatsächliche Zinsbelastung trotz Zinswende noch auf Jahre niedrig

Dass die tatsächliche Zinslast weiterhin derart niedrig ist, hat einen einfachen Grund: Auch die schnellste und kraftvollste Zinswende in der EZB-Geschichte kann die vielen Jahre der Null- und Negativzinsen nicht ungeschehen machen. Das durchschnittliche Zinsniveau der Staaten bleibt damit ungeachtet höherer Refinanzierungskosten am Markt auch in den nächsten Jahren niedrig (siehe Grafik unten). Die Zinswende ist folglich zwar das dominierende Thema, sie spiegelt sich in der tatsächlichen Zinsbelastung der Staaten jedoch erst ansatzweise wider. Einerseits in dem Maße, wie niedrig verzinste Staatsanleihen fällig werden und durch neue, höher verzinste Papiere ersetzt werden müssen. Und andererseits in dem Maße, wie neue Anleihen zur Finanzierung laufender Defizite begeben werden müssen. Das bedeutet: Selbst wenn die Staatsanleiherenditen auf dem aktuell erhöhten Niveau verharrten, wäre beispielsweise die Staatsverschuldung Italiens nach zwei Jahren (2023-2024) der „hohen“ Zinsen Ende 2024 kaum höher, als wenn der italienische Staat weiterhin Anleihen zu den günstigen Konditionen des Jahres 2021 begeben könnte (138,5 % des BIP vs. 138,1 % des BIP; Zinssatz bei Neuemissionen: 3,90 % vs. 0,37 %).

Italien: Durchschnittliches Zinsniveau (impliziter Zinssatz) steigt nur langsam - trotz gestiegender Kapitalmarktrenditen*
*Annahme: Neue Staatsanleihen (7J Laufzeit) werden ab 2023 zum aktuellen (Durchschnitt Jän.-Mär. 2023) Marktrenditeniveau von 3,90 % begeben; Primärsaldo 2023-2024 gemäß IWF-Prognose, 2025ff: ø 2013-2019; BIP real (% p.a.) 2023-2024 gemäß IWF-Prognose, 2025ff: ø 2000-2019; Inflation (% p.a., BIP-Deflator): 2023-2024 gemäß IWF-Prognose, 2025ff: ø 2027-2028 gemäß IWF-Prognose
Quelle: EU-Kommission (Ameco), Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research

Inflationsgewinne weitaus größer als Zinsgewinne

Das gestiegene Zinsniveau kommt bei den Staaten also erst mit zeitlicher Verzögerung an. Gänzlich anders verhält es sich mit der hohen Inflation, von der die Staatsfinanzen in „Echtzeit“ profitieren. Das jedoch nicht in erster Linie wegen der auch medial viel beachteten sprudelnden Steuereinnahmen (USt-Aufkommen Österreich 2022: +16 % ggü. 2021), sondern vielmehr, weil die in Relation zur nominalen Wirtschaftsleistung dargestellte Staatsverschuldung von der hohen Teuerung (genauer gesagt vom nicht unwesentlich inflationsgetriebenen hohen nominalen BIP-Wachstum) „weginflationiert“ wird. Die Staaten sind also auch abseits steigender Steuereinnahmen klare „Inflationsgewinner“.

Diese „Inflationsgewinne“ stellen sogar die aufgrund des nach wie vor niedrigen Durchschnittszinsniveaus enstehenden Gewinne klar in den Schatten. Es zeigt sich: Wäre der Bestand an Staatsanleihen nicht weiterhin durch die Jahre der Null- und Negativzinsen geprägt, müssten die Staaten also seit Anfang 2022 bis zum Ende des Prognosehorizonts (2024) auf sämtliche ausstehenden Verbindlichkeiten das aktuelle (höhere) Marktzinsniveau entrichten, würden im Jahr 2024 immer noch 12 der 20 Euroländer niedrigere Verschuldungsquoten aufweisen als im Jahr 2020, verglichen mit 16 gemäß der letzten (November 2022) Kommissionsprognosen wie auch jener des IWF (April 2023).

Anzahl der Euroländer mit Verschuldungsrückgang 2024 ggü. 2020*
* Anzahl der EA-20 Länder auf Basis der Verschuldungsquote in % des BIP; Basisszenario: Prognose der EU-Kommission (Nov. 22); Niedrigere Inflation: Berechnung der Schuldenquote 2022-2024 unter der Annahme, dass Inflation (BIP-Deflator) ø 2013-2019 entspricht; Höhere Durchschnittszinsen: Berechnung der Schuldenquote 2022-2024 unter der Annahme, dass impliziter Zinssatz bereits ab 2022 derzeitigem Marktzinsniveau (Durchschnitt Jän.-Mär. 2023) entspricht
Quelle: IWF (World Economic Outlook), EU-Kommission (Ameco), Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research

Weitaus größer wären hingegen die Auswirkungen, würde sich der derzeitige inflationäre Rückenwind in Gegenwind umkehren, hätte die Teuerung also im Jahr 2022 nahtlos dort weitergemacht, wo sie vor Corona aufgehört hat. So ließe ein Rückfall in die vor der Pandemie (2013-2019) vorherrschende Ära der (zu) niedrigen Inflation die Schuldenquote der Eurozone in den Jahren 2022 bis 2024 lediglich stagnieren – und das trotz weiterhin vorhandenen zinsseitigen Rückenwindes. Denn an einen Verschuldungsrückgang wäre ohne das geänderte Inflationsumfeld vielfach nicht zu denken, gelänge dies (Verschuldungsrückgang 2024 ggü. 2020) in einem „Lowflation“-Umfeld doch nicht einmal der Hälfte (8) der Euroländer. Damit wird deutlich: Weniger die Nachwirkungen der jahrelangen Null- und Negativzinsen, sondern in erster Linie die hohen Inflationsraten sind verantwortlich dafür, dass das Thema Haushaltskonsolidierung auf der politischen Agenda derzeit unter ferner liefen rangiert und sich auch die Staatsanleihemärkte für ihre Verhältnisse regelrecht tiefententspannt zeigen – auch und gerade während der Bankenturbulenzen im März.

Verschuldungsquoten: Inflations- und Zinsgewinne im Vergleich*
* Basisszenario: 2022-2024 Prognose der EU-Kommission (Nov. 2022); Niedrige Inflation: Berechnung der Schuldenquote 2022-2024 unter der Annahme, dass Inflation (BIP-Deflator) ø 2013-2019 entspricht; Höhere Durchschnittszinsen: Berechnung der Schuldenquote 2022-2024 unter der Annahme, dass impliziter Zinssatz bereits ab 2022 derzeitigem Marktzinsniveau (Durchschnitt Jän.-Mär. 2023) entspricht
Quelle: EU-Kommission (Ameco), RBI/Raiffeisen Research

Doppelter Rückenwind verhindert Diskussion über Grenzen fiskalischer Belastbarkeit

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass eine Diskussion über die Grenzen der fiskalischen Belastbarkeit kaum stattfindet. Ganz so, als wäre mit der Zeitenwende auch das „Ende der Haushaltskonsolidierung“ als willkommene Begleiterscheinung der neuen Normalität ausgerufen worden. Denn nach der Gesundheits- und Energiekrise richtet sich nun der Fokus darauf, die grüne Transformation mit fiskalischer Hilfe anzuschieben und im Subventionswettlauf den USA und China in nichts nachzustehen. Die Herausforderungen sind groß, Fragen nach budgetären Spielräumen sind angesichts dessen scheinbar von untergeordneter Bedeutung bzw. werden in fiskalisch schwächeren Ländern mit Forderungen nach neuen EU-Schulden begegnet (EU-Souveränitätsfonds).

Dabei wäre eine Diskussion über Konsolidierungsmaßnahmen ohne den doppelten Rückenwind bereits jetzt schon unausweichlich. Wollte beispielsweide Österreich in einem „Lowflation“-Umfeld (Inflation 2022-2024 so niedrig wie 2013-2019) im Jahr 2024 dieselbe Staatsschuldenquote aufweisen wie im aktuellen Basisszenario der EU-Kommission unterstellt (74,9 % des BIP), müssten bis dahin Konsolidierungsmaßnahmen im Ausmaß von EUR 35 Mrd. umgesetzt werden. Fiele zudem noch der weiterhin vorhandene Rückenwind aufgrund der jahrelangen Null- und Negativzinsen weg, erhöhten sich die Konsolidierungserfordernisse auf EUR 51 Mrd. Das ist mehr als die diskretionären Maßnahmen Österreichs, die 2022 im Zuge der Energie- bzw. Teuerungskrise implementiert worden sind (EUR 32,7 Mrd. 2022-2026).

Inflations- und Zinsgewinne im Zeitraum 2022-2024 (in % des BIP)*
* „Inflationsgewinne“: Notwendige fiskalische Anstrengungen, um Schuldenquote in einem Umfeld niedriger Inflation (BIP-Deflator 2022-2024 entspricht Durchschnitt der Jahre 2013-2019) 2024 auf das selbe Niveau wie im Basisszenario der EU-Kommission zu senken; „Zinsgewinne“: Notwendige fiskalische Anstrengungen, um Schuldenquote in einem Umfeld höherer Zinsen (impliziter Zinssatz 2022-2024 entspricht durchschnittlichem Marktzinsniveau der Monate Jänner-März 2023) 2024 auf das selbe Niveau wie im Basisszenario der EU-Kommission zu senken
Quelle: EU-Kommission (Ameco), Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research

Natürlich basiert dieses „hypothetische Konsolidierungsvolumen“ auf Annahmen, die stark von den derzeitigen und mit Blick auf die Inflation in den nächsten 1-2 Jahren absehbaren Entwicklungen abweichen. Die Teuerung bleibt wohl selbst 2025 über dem EZB-Ziel. Zudem werden die Nachwirkungen des geldpolitischen Ausnahmezustands der Niedriginflationsperiode auf die durchschnittliche Zinsbelastung auch 2024 und darüber hinaus noch unübersehbar sein. In den nächsten Jahren wird der doppelte Rückenwind für die Staatsfinanzen abnehmen, aber weiterhin beträchtlich sein.

Dass das Thema Staatsverschuldung wieder in den (Markt-)Fokus rückt, ist kurzfristig also nicht zu erwarten. Mittel- und vor allem längerfristig könnte sich das jedoch ändern. Die durchschnittliche Zinsbelastung steigt zwar nur langsam, doch sie steigt. Der Anstieg der Kapitalmarktzinsen wirkt daher wie ein „schleichendes Gift“. Und auch wenn Demografie, Friend- und Nearshoring, ESG sowie Lieferkettengesetze alles Faktoren sind, die für einen strukturell, sprich längerfristig höheren Inflationsdruck sprechen als in der Phase der bis Pandemiebeginn vorherrschenden Niedriginflation: Die historisch hohen Inflationsraten der Jahre 2022 und 2023 stellen nicht den neuen Normalzustand dar. Längerfristig und im Durchschnitt wird die Inflation der zwei Prozent Marke viel näher sein als den etwa achteinhalb Prozent des Jahres 2022.

Wenn der Wind dreht: Fiskalpolitik nach dem „anstrengungslosen“ Verschuldungsabbau

Doch was würde ein immer weiter ansteigender Durchschnittszinssatz in Verbindung mit einer strukturell höheren Inflation als vor der Pandemie für die Verschuldungsquoten insbesondere der höher verschuldeten Euroländer (diese stehen in dieser Analyse neben der Kern-Eurozone im Fokus) in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts bedeuten? Die Antwort auf diese Frage steht und fällt klarerweise mit den Annahmen. Seit Anfang 2020 ist die Unsicherheit zum treuen Wegbegleiter geworden, längerfristigen Prognosen war zumeist nur eine sehr kurze Lebensdauer beschieden. Auch im Jahr 2025 und danach kann sich die (ökonomische) Welt folglich gänzlich anders darstellen als 2023 gedacht. Die Analyseergebnisse müssen also mit einer gewissen Demut betrachtet werden, basieren aber dennoch gegeben dem aktuellen Informationsstand auf plausiblen Grundannahmen. Diese Annahmen stellen dabei bewusst keine Extremszenarien dar, sondern spiegeln ein realistisches Bild eines neuen Normalzustandes in den Jahren ab 2025 wider.

Die Annahmen

Es wird unterstellt, dass sich mit der Inflation (BIP-Deflator), dem realen BIP-Wachstum und dem Primärsaldo fast alle maßgeblichen Einflussgrößen für die Staatsverschuldungsquoten bis inklusive 2024 so entwickeln, wie vom IWF im April prognostiziert. Für die Annahmen zur Zinsentwicklung orientieren wir uns hingegen an den aktuellen Marktgegebenheiten. Wir unterstellen deshalb, dass neue zu begebene Staatsanleihen 2023 und 2024 zum durchschnittlichen Renditeniveau des bisherigen Jahresverlaufs (Jänner-März) emittiert werden. Für die Jahre ab 2025 werden dann folgende (eigene) Annahmen verwendet:

Zinsen: Die Staatsanleiherenditen befinden sich bereits über jenen Niveaus, die wir unter fundamentalen Gesichtspunkten langfristig, d.h. auf Sicht von mehreren Jahren, als angemessen betrachten. Wir verwenden daher für die Jahre ab 2025 das bisherige Jahresminimum der täglichen Staatsanleihenrenditen (für den Zeitraum 2023-2024 wie erwähnt den bisherigen Jahresdurchschnitt). Für deutsche Staatsanleihen (10J) liegt das Tief beispielsweise bei 2,0 % (ø Anfang Jänner – Anfang April: 2,3 %). Ein Wert, der im Falle Deutschlands recht gut unsere Meinung eines langfristig angemessenen bzw. neutralen Renditeniveaus widerspiegelt (in der Realität wird das Zinsniveau fast immer darunter oder darüber liegen). Ferner wird davon ausgegangen, dass die Staaten die durchschnittliche Restlaufzeit ihrer Staatsanleihen auf dem momentanen Niveau konstant halten (IT: 7 Jahre, Ö: 12 Jahre).


* durchschnittliche Verzinsung der ausstehenden Staatsverschuldung, 2025/2030: eigene Berechnung auf Basis Sekundärmarktrendite Jahresminimum Jän.-Mär. 2023, nachfolgend dargelegter Annahmen zu BIP und Inflation sowie durchschnittl. Primärsaldo 2013-2019; ** Sekundärmarktrendite Staatsanleihen gemäß durchschnittl. Restlaufzeit; *** in Klammern: durchschnittl. Restlaufzeit ausstehender Staatsanleihen in Jahren
Quelle: EU-Kommission (Ameco), Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research

Inflation: Die Inflation in der Eurozone durchlebte in den letzten Jahrzehnten zwei Extreme. Von einem Umfeld zu niedriger Inflation zu den höchsten Inflationsraten seit vielen Jahrzehnten. Wie oben dargelegt dürfte die Inflation nach einer Normalisierung strukturell (d.h. im Durchschnitt) höher ausfallen als vor der Pandemie. Nachdem die Inflation (HVPI) in der Eurozone zwischen 2000 und 2019 bei durchschnittlich 1,7 % p.a. lag (2013-2019: 1,3 % p.a.), erwarten wir längerfristig einen Durchschnittswert von 2,0 % p.a. Zwar verwenden wir im konkreten Fall die langfristigen Inflationsprognosen (durchschnittl. Prognosewert des BIP-Deflators für 2027-2028) des IWF (World Economic Outlook), da der Währungsfonds für sämtliche Euroländer über das Jahr 2024 hinausgehende Inflationsschätzungen erstellt. Zumindest mit Blick auf die gesamte Währungsunion weicht die langfristige Inflationsmeinung jedoch kaum von unserer ab (HVPI IWF: 1,9 % p.a., BIP-Deflator IWF: 1,9 % p.a.).

Eurozone: Vergangenheit nur teilweise Maßstab für die Zukunft
Quelle: IWF (World Economic Outlook), Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research

BIP, Inflation & Budgetsaldo - Annahmen
Prognosen 2023-2024: IWF World Economic Outlook (April 2023), fett markierte Spalten: Entsprechende Zeiträume fließen in nachfolgende Verschuldungssimulation ein * Durchschnitt IWF-Prognosen (April 2023) für die Jahre 2027-2028
Quelle: IWF (World Economic Outlook), Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research

Reales Wachstum: Anders als bei Zinsen und Inflation zeichnet sich bei den realen Wachstumsaussichten nicht notwendigerweise ein Trendbruch verglichen mit der Vor-Corona Zeit ab. Folglich wird für das BIP-Wachstum ab 2025 der zwischen 2000 und 2019 verzeichnete Durchschnittswert fortgeschrieben. Über diesen Zeitraum mit all seinen Höhen und Tiefen wuchs die Euro-Wirtschaft real um 1,4 % p.a. Dies entspricht in etwa unserer Annahme zum Potenzialwachstum der Währungsunion (1,3 % p.a.) und liegt sowohl leicht unter dem Durchschnitt der aus konjunktureller Sicht recht positiv verlaufenen unmittelbaren Vor-Corona Jahre (2013-2019: 1,6 % p.a.) als auch unter den entsprechenden Annahmen des IWF (2025-2028: 1,6 % p.a.).


Das Ergebnis

Was bedeutet es also für die fiskalische Großwetterlage, wenn die Zinsen erhöht bleiben und sich die Inflation mittelfristig auf einem höheren Niveau als vor der Pandemie einpendelt?

Die ebenso schlechte wie erwartbare Nachricht: Ein fiskalisches „weiter so“, also auch nach 2024 Primärdefizite wie für dieses und nächstes Jahr vom IWF prognostiziert bzw. in den letzten Jahren gesehen, können sich die wenigsten Ländern leisten. Zwar kämen Österreich, Italien und Portugal auf den ersten Blick noch recht glimpflich davon. Immerhin würden deren Staatsverschuldungsquoten bis 2030 verglichen mit dem für 2024 erwarteten Niveau stagnieren oder sogar zurückgehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass in den genannten Ländern nach Jahren der sehr expansiven Fiskalpolitik keine fiskalische Kehrtwende notwendig ist. Vielmehr nimmt der IWF diese ein Stück weit in ihren Prognosen für 2023 und 2024 vorweg. So rechnet der Währungsfonds insbesondere in Italien bereits heuer und im nächsten Jahr im Vergleich zu 2021-2022 mit (merklich) verbesserten Primärsalden. Anders die Situation in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Spanien, Finnland und insbesondere Frankreich, wo dieses und nächstes Jahr vergleichsweise geringe Verbesserungen der Primärsalden unterstellt werden. Die Verschuldungsquoten lägen in diesen Ländern Ende des Jahrzehnts folglich um 3 bis 12 Prozentpunkte über dem für 2024 erwarteten Niveau.

Brutto-Schuldenquote (% BIP): Fiskalisches „weiter so“ nicht möglich
Annahmen/Inputfaktoren: Schuldenstand 2024: Prognosen BIP/Inflation/Primärsaldo gemäß IWF, Zinsen: Durchschnitt Sekundärmarktrendite Jän.-Mär. 2023, konstante Restlaufzeit; Schuldenstand 2030/2035: Primärsaldo ø 2013-2019 bzw. ø 2023-24 (IWF-Prognose) in % des BIP; BIP real (% p.a.): ø 2000-2019; Inflation (% p.a.): BIP-Deflator ø 2027-2028 (IWF-Prognose); Zinsen: Minimum Sekundärmarktrendite Jän.-Mär. 2023, konstante Restlaufzeit; (dunkel) rot: Anstieg der Verschuldungsquote ggü. 2024 (um mehr als 10 Protzentp.), (dunkel) grün: Rückgang der Verschuldungsquote ggü. 2024 (um mehr als 10 Prozentp.)
Quelle: IWF (World Economic Outlook), EU-Kommission (Ameco), Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research

Die gute Nachricht: Kehrten die Euroländer zur Fiskalpolitik der Vor-Corona Jahre (2013-2019) zurück, sänken die Verschuldungsquoten in den meisten der betrachteten Euroländer und besonders deutlich in der Kern-Eurozone (DE, AT, NL) sowie in Belgien. Selbst das Verschuldungsniveau des Jahres 2019 würde in diesen Fällen bereits 2030 klar unterschritten. Auch Portugals „Schuldenrucksack“ wäre 2030 deutlich niedriger als vor der Pandemie. Das Land kann damit als fiskalischer „Musterschüler“ der südlichen Eurozone bezeichnet werden. Die Ausnahmen sind dafür umso prominenter: Neben Spanien ist es insbesondere Frankreich, wo eine Rückkehr zur Fiskalpolitik der Jahre 2013 bis 2019 bis Ende des Jahrzehnts leicht steigende Verschuldungsquoten zur Folge hätte (und Finnland mit einer de-facto Stagnation). Zwar wird dies in beiden Fällen dadurch relativiert, dass die insbesondere in der Kern-Eurozone (auch) aus fiskalischer Sicht recht positiv verlaufenen Jahre 2013 bis 2019 weder für Spanien noch für Frankreich ebensolche waren. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die damaligen Verletzungen der EU-Defizitregeln durch Frankreich, denen jedoch keine Einleitung eines Defizitverfahrens folgte (Juncker im Jahr 2016: „Weil es Frankreich ist“). Doch kann die Tatsache, dass sich in Spanien und Frankreich in den Vor-Corona Jahren trotz passabler Rahmenbedingungen die Haushaltssituation verschlechtert hat, schwerlich als mildernder Umstand gewertet werden. Vielmehr kristallisieren sich mit Frankreich und Spanien zwei Länder heraus, deren unzureichende Sparbemühungen in der Vergangenheit bestenfalls stagnierende Verschuldungsquoten in der Zukunft realistisch erscheinen lassen. Wie schwierig ein fiskalischer Kurswechsel werden dürfte, zeigen die aktuellen Rentenproteste in Frankreich. Dagegen verhielte sich Italien, das in Sachen Staatsverschuldung unter „besonderer Beobachtung“ steht, bei einer Rückkehr zur fiskalischen Normalität der Vor-Pandemie Jahre „unauffällig“. Immerhin ginge die Schuldenquote bis 2030 um 5 Prozentpunkte zurück und läge damit knapp unter dem Niveau des Jahres 2019. Von der Öffentlichkeit zumeist unbemerkt gelang es dem Land vor der Pandemie und ganz im Gegensatz zu Frankreich Jahr für Jahr beachtliche Primärüberschüsse zu erwirtschaften (ø 2013-2019: 1,6 % des BIP, Frankreich: -1,5 % des BIP). Das Verschuldungsproblem Italiens ist denn auch im Wesentlichen ein Wachstumsproblem.

Schuldenquote: Abbau diverser Krisenkosten für Frankreich & Spanien Kraftakt*
* Brutto-Staatsverschuldung in % des BIP; „weiter so“: ø Primärsaldo (% BIP) 2023-2024 (IWF-Prognose) ; fiskalische Normalisierung: ø Primärsaldo (% BIP) 2013-2019
Quelle: IWF (World Economic Outlook), Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research

Fazit & Implikationen für die zukünftige Euro-Fiskalarchitektur

Dass die weiterhin hohen Verschuldungsquoten nicht im (Markt-)Fokus stehen, ist dem unverändert vorhandenen doppelten Rückenwind aus niedriger Durchschnittverzinsung der bereits begebenen Staatsanleihen und insbesondere der hohen Inflation geschuldet. Auch 2024 und darüber hinaus werden die Nachwirkungen des geldpolitischen Ausnahmezustands auf die durchschnittliche Zinsbelastung noch unübersehbar sein. Der doppelte Rückenwind für die Staatsfinanzen nimmt zwar ab, wird aber in den nächsten Jahren weiterhin beträchtlich sein. Aus fundamentalen Gesichtspunkten spricht also wenig dafür, dass das Thema Staatsverschuldung auf kurze und mittlere Sicht Märkte und Medien in Atem hält. Nicht vergessen werden darf ferner, dass nach Jahren des QE (Quantitative Easing) ein beträchtlicher Teil (zwischen 13 % und 47 %) der ausstehenden Staatsanleihen nicht von privaten Investoren gehalten wird, sondern von der EZB bzw. den nationalen Zentralbanken der Eurozone (NZBs). Dadurch werden Risiken hinsichtlich der Tragfähigkeit der öffentlichen Fiskalmaßnahmen gemindert, sind diese Staatsanleihen doch dem freien Spiel der (Markt-)Kräfte entzogen.

Auf längere Sicht kann sich ein fiskalisches „weiter so“ dennoch fast kein Euroland leisten. Nach Jahren, in denen mitunter der Eindruck erweckt worden ist, dass angesichts von Null- und Negativzinsen das „Geld abgeschafft“ zu sein scheint und umfassende Unterstützungsmaßnahmen einer „Vollkaskomentalität“ Vorschub geleistet haben, ist vielmehr ein Umdenken notwendig. Ansteigende Verschuldungsquoten in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts wären ansonsten kaum zu vermeiden. Die meisten Staaten der Kern-Eurozone befinden sich dabei in einer vergleichsweise günstigen Ausgangsposition. Immerhin würde in dieser Ländergruppe eine Rückkehr auf den vor der Pandemie beschrittenen Pfad der Budgetpolitik mehr als ausreichen, um die Verschuldungsquoten trotz höherer Zinsen bis 2030 unter das Niveau von 2019 zu senken. Deutschland, Österreich & Co. könnten somit die budgetären Kollateralschäden von Gesundheitskrise, Energiekrise und Zeitenwende innerhalb weniger Jahre beseitigen. Nicht jedoch so in Teilen der südlichen Eurozone, wobei hier nicht der „übliche Verdächtige“ Italien (und auch nicht Portugal), sondern vielmehr Spanien zu nennen ist. Zusammen mit Frankreich stellen diese beiden Staaten die fiskalischen „Sorgenkinder“ dar. Denn wie man es auch dreht und wendet: Beide Länder müssten eine zumindest in Jahren vor der Pandemie nicht gesehene Kraftanstrengung an den Tag legen, um die Verschuldungsquote klar unter das Niveau von 2024 zu senken – vom Vor-Corona Niveau des Jahres 2019 ganz zu schweigen. Eine „Zweiteilung“ der Eurozone ist also eine reale Gefahr, deren Vermeidung in einigen Ländern einen fiskalischen Kurswechsel und damit die Einsicht erforderte, dass Fiskalpolitik eben keine Einbahnstraße ist. Denn Reform- und Sparbemühungen ohne Akzeptanz in der Bevölkerung („ownership“) sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, das haben die Jahre der Euro-Schuldenkrise gezeigt. Die kurzfristigen politische Kosten einer solchen Politik sind jedenfalls nicht zu unterschätzen. Nach Jahren des „anstrengungslosen“ Verschuldungsabbaus könnten daher höhere Inflation und niedrigere Zinsen als attraktivere Alternativen gesehen werden mit entsprechenden Appellen an die EZB, die Zinszügel im Kampf gegen die Inflation nicht allzu fest anzuziehen. Immerhin könnten Spanien und Frankreich einen weiteren Anstieg der Verschuldungsquoten auch ohne verstärkte Konsolidierungsbemühungen verhindern, wenn die Inflation dauerhaft bei 2,6 % (Spanien) / 4,0 % (Frankreich) bzw. die Durchschnittsverzinsung bei 1,9 % / 0,0 % läge – oder eine Kombination aus beidem. Nicht unerwähnt bleiben darf freilich, dass es neben den diskutierten Optionen Konsolidierung, höhere Inflation und niedrigere Zinsen mit strukturellen Reformen zur Verbesserung des Wachstumspotenzials einen Weg gibt, der die Konsolidierungserfordernisse zumindest verringert.

Implikationen für die Reform des Stabilitätspaktes

Die Europäische Fiskalpolitik findet seit Anfang 2020 im „rechtsfreien Raum“ statt. Die allgemeine Ausweichklausel (General Escape Clause), die im März 2020 implementiert wurde und eine (vorübergehende) Abweichung von den EU-Fiskalregeln erlaubt, bleibt auch im Jahr 2023 aktiv. Die letzten Wochen und Monate haben gezeigt, dass es zwischen EU-Kommission und einigen Mitgliedsländern noch keinen Konsens gibt, wie das fiskalische Regelwerk der Eurozone bzw. der EU in Zukunft aussehen soll. Eine Reform im aktuellen Umfeld birgt die Gefahr, dass die derzeitige Kombination aus noch niedrigem fiskalischen Handlungsdruck und hohen Investitionserfordernissen letztendlich weniger stringente fiskalische Regeln als notwendig zur Folge hat. Insofern wäre es durchaus überlegenswert, zunächst eine Übergangslösung für die nächsten Jahre und in weiterer Folge eine substanzielle Überarbeitung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in Zeiten geringerer Unsicherheit anzustreben, zumal auch die EZB für 2025 eine erste Überprüfung ihrer neuen geldpolitischen Strategie angekündigt hat. Die wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten von geld- und fiskalpolitischer Steuerung könnten somit in stärkerem Maße berücksichtigt werden. Die umfassenden und teils marktverzerrenden Staatsanleihenkäufe und Reinvestitionen der EZB sowie die erstmal noch länger niedrigen Zinskosten sollten zumindest bis 2025 noch Zeit kaufen. Ferner gilt es zu bedenken, dass sich substanzielle Reformfenster des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wohl nur sehr selten öffnen. Ein Regelwerk, das „nur“ die aktuellen unsicheren Gewissheiten abbildet, könnte in einem geänderten Umfeld „antiquiert“ wirken. Die EZB kann davon ein Lied singen, ist deren „neue Strategie“ doch eher eine Antwort auf die längst vergangene Zeit der zu niedrigen Inflation und Inflationserwartungen (siehe Perspektiven: EU-Fiskalregeln 2.0 für weitere grundsätzliche Überlegungen zur Reform des EU-Stabilitätspaktes).

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Matthias REITH

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Matthias Reith blickt auf mehr als 10 Jahre Erfahrung bei Raiffeisen Research zurück. Damals wie heute ist er verantwortlich für die Analyse der österreichischen Volkswirtschaft, im Jahr 2020 hat er zudem maßgeblich das österreichische Bundesländer-Immobilienresearch mit aufgebaut. Ferner befasst sich Matthias Reith mit anderen Euroländern sowie der gesamten Eurozone und nimmt dabei neben der Konjunktur insbesondere die Fiskalpolitik ins Visier. Matthias Reith kann neben regelmäßiger Vortragstätigkeit auch mehrjährige Unterrichtserfahrung vorweisen. Wandern zählt zu seinen Hobbys, das Land seiner schwerpunktmäßigen Analyse hat Matthias Reith zu Fuß von Ost nach West durchquert.