AUSGANGSLAGE
In den USA ist die Konsumentenpreisinflation in den letzten Monaten auf viel beachtete Werte über 5 % angestiegen. In Europa könnten wir in den kommenden Monaten bei den Konsumentenpreisen an der 3 % Marke kratzen, in Deutschland sind Preissteigerungen an die 4 % möglich. Was sich derzeit auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten abspielt, ist genau genommen aber (noch) nicht Inflation! Wir sehen „nur“ mehr oder minder kräftige Preissteigerungen gegenüber dem Vorjahr – auch geprägt durch Sondereffekte.
Inflationsraten in der Eurozone stark ansteigend |
HVPI in % p.a. |
Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research |
Von Inflation spricht man erst, wenn sich die Preisentwicklung über einen längeren Zeitraum kontinuierlich nach oben bzw. über das Inflationsziel der Notenbank bewegt. Aus diesem Grund stellen Notenbanken bei ihren Inflationszielen auch immer die Mittel- und Langfristigkeit der Zielvorgabe in den Vordergrund. Deshalb betonen auch die Vertreter der EZB wie auch der Federal Reserve, dass aktuelle Preisanstiege vorerst einmal nicht besorgniserregend und “temporär” (“transitory”) sind, weil eben kurzfristiger Natur. Entscheidend ist daher, was spielt sich längerfristig ab und welche Einflussfaktoren werden für die Preisentwicklung relevant .
KERNAUSSAGEN
Mittel- bis langfristiger Inflationsausblick: Mit Unsicherheit behaftet, Resultat politischer Entscheidungen, aber höheres Inflationspotenzial als zuletzt
Die nächsten zehn Jahre haben ein deutlich höheres Inflationspotenzial als die vergangenen zehn Jahre. Wir denken, dass einige der strukturell und global preisdämpfenden Faktoren der letzten Dekaden in den 2020er Jahren schrittweise an Wirkungskraft verlieren könnten (z.B. Globalisierung, Demografie bzw. Ersparnisüberhang). Andere preisdämpfende Faktoren verbleiben (Digitalisierung), während wir auch einige gesellschaftspolitische Trends sehen, die durchaus nachhaltig preiserhöhende Implikationen haben können. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass die Phase seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise 2008/2009 eine deutlich unterdurchschnittliche Güterpreisentwicklung und eine deutlich überdurchschnittliche Finanzmarkt-Preisentwicklung gegenüber den langfristigen Trends gebracht hat.
Historisch niedrige Inflationsphase seit 2010 |
BIZ, RBI/Raiffeisen Research |
Die Überschussliquidität der Zentralbanken, die von Finanzintermediären in Geldmenge der Nichtbanken gewandelt wird, dürfte aufgrund demografischer Entwicklung künftig anteilsmäßig weniger in die Finanzmärkte als in den privaten Konsum fließen. Damit nimmt der Einfluss des Geldmengenwachstums auf die Preisbildung am Finanzmarkt tendenziell ab und bei den Konsumentenpreisen tendenziell zu. Bei expansiver Geldmengensteigerung von über 4–5 % p.a. kann daraus eine künftig schwächere Preisentwicklung auf den Finanzmärkten und eine unterstützte Preisentwicklung bei den Verbraucherpreisen abgeleitet werden, wobei preisdämpfende Effekte aus dem Rückbau von Vermögenswertpreisblasen - gerade am Immobilienmarkt – möglich sind.
Geldmengenwachstum und Aktienkursentwicklung seit Beginn QE |
Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research |
In den letzten zwei bis drei Dekaden bestimmte vor allem das ökonomische Kalkül internationale Standort- oder Lieferkettenentscheidungen. Dies könnte sich durch in den Vordergrund gerückte geopolitische und vor allem auf den Klimaschutz und weitere der ESG-Faktoren bezogene Entwicklungen ändern. Auch wenn hier teils marktwirtschaftliche Instrumente eingesetzt werden, müssen wir eine Tendenz zu einem höheren Anteil an administrativ-staatlicher Preisfestsetzung feststellen. Da es sich bei Klimaschutz und ESG um globale Entwicklungen handelt, können daraus nachhaltig preistreibende Trends entstehen. Nicht zu vernachlässigen ist hier auch, dass die USA durch einen substanziell preistreibenden Politikmix geprägt sind, deutlich stärker als in Europa. Dieser kann aber durchaus – wie wirtschaftshistorisch beobachtbar – Übertragungseffekte in andere Länder entwickeln.
CO2 Preise (in EUR/Tonne) in Europa noch ungenügend |
worldbank RBI/Raiffeisen Research |
Es muss auch festgehalten werden, dass obige Themen sowie die COVID-19-Pandemie schon eine Ausbreitung des Sektors Staat in wirtschaftlichen Belangen gebracht haben und möglicherweise noch bringen werden. Das schließt nicht nur die fiskalische, sondern nicht unwesentlich auch die regulatorische Tangente mit ein. Je stärker der öffentliche Bereich in wirtschaftliche Aktivitäten eingreift, desto größer ist auch die Gefahr höherer Preisentwicklungen im Vergleich zu einem marktwirtschaftlich dominierten Wirtschaftssystem.
Staatseinfluss und Inflation |
Unterschiedliche Preisentwicklung am Beispiel Österreich |
Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research |
Allerdings gilt zu betonen, dass gerade in Europa bzw. im Euroraum (leicht) höhere Inflationsraten näher bei den Werten der 1990er oder frühen 2000er Jahre nicht per se negativ zu interpretieren sind. Auch in der Vergangenheit konnten marktwirtschaftliche Systeme gut mit durchschnittlichen Preissteigerungsraten um 2–3 % bestehen. Solche Konsumentenpreissteigerungsraten sehen wir in der Eurozone und hier vor allem in Ländern mit schon jetzt engen Arbeitsmärkten (z.B. Österreich, Deutschland) längerfristig durchaus im Bereich des Möglichen. Zumal auch in solchen exportlastigen Ökonomien die skizzierten möglichen auslaufenden Effekte der Globalisierung besonders zum Tragen kommen können.
Wie hoch die künftige Teuerungsrate tatsächlich ausfällt, hängt auch von der Berechnung der Preisindizes ab. Die hedonische Methode führt tendenziell zu einem niedrigeren Ausweis der Preissteigerung, weil Qualitätsverbesserungen preisreduzierend kalkuliert werden.
Bei einer etwas prononcierteren mittel- und langfristigen Reflationsdynamik in Europa sollte zudem der Ausstieg aus (großen) Teilen unkonventioneller geldpolitischer Maßnahmen längerfristig möglich werden. Sollten die Inflationserwartungen bzw. -risiken nach der Welle der aktuellen Einmaleffekte in den Jahren 2021/2022 steigen, sehen wir die großen Notenbanken in der Lage, steigende Inflationserwartungen mit konventionellen Mitteln einzudämmen – auch wenn dies (für Finanz-Marktakteure) die eine oder andere Überraschung bringen könnte.