Perspektiven: Geldpolitik & Inflation 1970er zurück? Jein, beim Realzins Ja!

Derzeit erinnern Elemente des konjunkturellen und geldpolitischen Umfeldes an die 1970er Jahre. Allerdings liegt eine differenzierte Sicht nahe, es gibt Unterschiede im Bereich Wirtschaftsstrukturen und Geldpolitik im Vergleich zu damals. Wobei gilt: Bei den kurzfristigen Realzinsen werden wir – trotz geldpolitischer Wende der EZB – erstmal im tief negativen Bereich der 1970er Jahre landen und dann wohl weiter im negativen Bereich verharren.

Inflation: In Peking, Moskau, Brüssel oder Frankfurt gemacht?

Nach der überraschend starken – wenn auch turbulenten – Wirtschaftserholung von der Pandemie winkt mit der Eskalation geopolitischer Spannungen durch den Ukraine-Krieg die nächste wirtschaftliche Schwächephase in Europa (selbst ohne Gasembargo). Das Wirtschaftswachstum im Euroraum könnte 2023 eher bei einem Prozent liegen. Ein Wachstums-Dämpfer bei hoher Inflation, zumindest bei 6 % heuer (mit Aufwärtsrisiken), stellt für die EZB ein schwieriges Umfeld dar. Unter normalen Umständen gehen Konjunktursorgen mit inflationsdämpfenden Effekten einher, sodass Notenbanken die Geldpolitik lockern, um die Konjunktur zu unterstützen. Im aktuellen Umfeld prononcierter Inflationsrisiken, welches von Stagflationstendenzen geprägt ist, sieht die EZB trotz konjunktureller Abwärtsrisiken eine Normalisierung der Geldpolitik bzw. eine weniger expansive Geldpolitik für angebracht. Dies gilt, auch wenn viele Inflationstreiber angebotsseitig sind und die Inflation in Peking, Moskau oder Brüssel gemacht wird, weniger in Frankfurt. Zumal sich schon im Zuge der Wirtschaftserholung im Nachgang Corona-Krise die Inflation hartnäckiger erwiesen hat als zuvor angenommen und auch in Europa der Inflationsdruck zunehmend breiter angelegt ist. Die Kerninflation liegt in Europa derzeit über 3 % und damit auf dem höchsten Stand seit Jahren, die Gesamtinflation ist sowieso schon in historischen Höhen angekommen in Europa und Österreich. Nun droht durch den Ukraine-Krieg nochmals neues Ungemach an der Inflationsfront bzw. ein breit angelegter globaler Preisschock über den Energiesektor hinaus. Und auf der anderen Seite des Atlantiks wird schon zunehmend diskutiert, ob nicht die FED zu lange zu zögerlich war, sie nun aggressiv nachholend die Geldpolitik straffen muss und die Idee die Wirtschaft bei vermeintlich temporärer Inflation „heiß laufen zu lassen“ krachend gescheitert ist. Für die US Fed wird derzeit am Markt ein erkennbar restriktiver Leitzinspfad gepreist – mit dem Risiko, dass die Fed den Leitzins erstmal sehr hoch schleusen muss, um danach wieder etwas zu lockern.

Inflation Eurozone: HVPI (% gg. Vorjahr)
Eurostat, RBI/Raiffeisen Research

Inflationspreisung deutlich über 2 %, Inflationsprämie am Kapitalmarkt

Im Lichte der Entwicklungen am Geld- und Kapitalmarkt in den USA muss es nicht überraschen, dass die Zinslandschaft in Europa, keineswegs wie in Krisenzeiten üblich, sank. In einer ersten Reaktion auf die Invasion Russlands in der Ukraine war dies zwar der Fall, da die 10-jährige deutsche Staatsanleiherendite kurz wieder unter die Null-Prozent-Marke fiel. Es dauerte aber nicht lange, bis das Vorkriegsniveau wieder erreicht wurde, welches dann sogar eindeutig übertroffen wurde. Das erste Mal seit 2014 liegt die 10-jährige deutsche Staatsanleiherendite nun wieder erkennbar über einem Prozent.

Und so sind es auch die kurz- bis langfristigen Inflationserwartungen, welche am Finanzmarkt seit Kriegsbeginn nochmals deutlich zulegen konnten und damit das Renditeniveau in der Eurozone beflügelten. Die am Finanzmarkt gepreisten Inflationserwartungen für den Euroraum haben die 2 Prozentmarke klar überschritten und liegen damit am oberen Rand des Toleranzbereiches der EZB (und dies auch unter Beachtung möglicher Risiko- und/oder Liquiditätsprämien in diesem Marktsegment). Derzeit liegen längerfristige Inflationserwartungen am Kapitalmarkt sogar erkennbar über den mittelfristigen Inflationsschätzungen der von der EZB befragten Ökonomen (auch wenn diese zuletzt deutlich angezogen haben und auch bei knapp 2 % liegen). Insofern gibt es erstmals seit Jahren eine positive sogenannte "Inflationsprämie" am europäischen Kapitalmarkt. Sprich am Finanzmarkt wird mittelfristig deutlich mehr Inflation erwartet, als unter Ökonomen und eben über dem EZB-Zielwert. Nicht zu vergessen, dass die EZB die Bedeutung der Inflationserwartungen prominent diskutiert hat in ihrem Strategieanpassungsprozess (siehe dazu hier). Und der mittel- und längerfristige Inflationsausblick sollte in den kommenden Jahren nicht von Sonderfaktoren nach unten belastet werden, die in den 2010er Jahren prägend waren (z.B. Entschuldung im privaten Sektor in einigen Euroländern, sehr niedrige Inflationsrate in Deutschland und interne Abwertung in Relation dazu in einigen Euroländern). Das wieder nachhaltige positive (nominale) Renditeniveau für den Kapitalmarkt-Referenzzins im Euroraum zeigt auch: Die Finanzmärkte erwarten nun eindeutig eine geldpolitische Wende der EZB – und dies sogar bei mauen Aussichten für das Wirtschaftswachstum.

Dabei erfolgt als erster Schritt ein klar kommuniziertes Ausklingen der umfassenden Netto-Anleihekäufe und als zweiter Schritt folgen Leitzinsanhebungen. Eine hektische Abkehr von diesem lange kommunizierten Vorgehen scheint nicht angezeigt, Zinserhöhungen sind auch mit dieser Ausrichtung im Juli möglich. Ein Abbau des akkumulierten Anleihebestandes, wie es die US-Notenbank beabsichtigt, oder gar ein Ende des Regimes generöser Notenbankliquidität sind dagegen (noch) kein unmittelbares Thema bei der EZB (zumal selbst die FED in Zukunft eine größere Bilanz aufrechterhalten wird). Wir erachten derzeit eine erste Zinsanhebung im Q3 als wahrscheinlich, bis Jahresende könnte die Politik negativer EZB-Leitzinsen mehr oder weniger eindeutig mit zwei oder drei Zinsschritten beendet werden. Die EZB wird sich aber in weiterer Folge die nötige Flexibilität einbehalten, um auf Änderungen des Inflationsausblicks zu reagieren und die geldpolitische Normalisierung zu be- bzw. entschleunigen. Es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass die EZB bei den Leitzinsen irgendwann ähnlich pragmatisch, wie die US Fed, agieren wird müssen. Gleichzeitig ist der Ausstieg aus der ultra-expansiven Geldpolitik bei der EZB schwieriger als bei der Fed. Die EZB hat mehr unkonventionelle Instrumente eingesetzt und ihre Notenbankbilanz (in Relation zum BIP im Euroraum) viel stärker ausgedehnt. Letzteres im Zusammenspiel mit der Kapitalmarktfragmentierung im Euroraum legt ein ausgewogenes Vorgehen beim Ausstieg aus dem Regime der ultra-expansiven Geldpolitik nahe. Wird denken, dass die EZB sich durchaus einen gewissen Spielraum für Leitzinserhöhungen einräumt aber zugleich sorgsam die Liquiditäts- und Finanzierungskonditionen am Kredit- und Kapitalmarkt im Blick behalten wird. Insofern ist in den kommenden Jahren mit einer Neuauflage von langfristigen Refinanzierungsgeschäften zu rechnen. Auch ein mögliches selektives marktstabilisierendes Anleihekaufprogramm ist nicht auszuschließen (siehe hierzu eine beachtenswerte Rede des französischen Notenbankgouverneurs).

Eurozone: Inflationspreisung am Finanzmarkt (%)
Refinitiv, RBI/Raiffeisen Research

Fokus Inflationserwartungen

Im Lichte der skizzierten Stagflationsrisiken werden – teils vorschnell – Parallelen zu den 1970er Jahren gezogen. Zumal die Inflationsraten in den USA und Europa sich derzeit auf dem höchsten Niveau seit Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre befinden. Und auch damals haben kriegsbedingte Energiepreisschocks die Wirtschaftsentwicklung abgewürgt und den Preisauftrieb befeuert. Teils haben einige Notenbanken damals den inflationären Schock unterschätzt – was derzeit auch gerade der EZB vorgeworfen wird – oder hatten unklarerer geldpolitische Mandate als heute. Allerdings gilt: In den USA und selbst in Deutschland lag die Inflationsrate damals schon lange bzw. bereits in den 1960er Jahren über dem Schnitt von 2 %. Während diese Marke in Deutschland von Anfang 1970 bis 1984 überschritten wurde, dauerte die Hochinflationsphase in den USA gar 20 Jahre (von 1966 bis 1986). Diesmal ist der Startpunkt ein anderer, wir kommen aus einem Niedriginflationsregime. Zudem denken wir, dass führende Notenbanken wie Fed und EZB die Verfehlungen der 1970er nicht einfach wiederholen werden und es zulassen, dass sich der aktuelle Preisschock dauerhaft in Form von höheren Inflationserwartungen in den Köpfen festsetzt. Zudem darf man gerade derzeit geldpolitische Reaktionen der großen führenden Notenbanken nicht nur auf die Leitzinspolitik verkürzen. Und in Bezug auf die Rückführung der unkonventionellen Geldpolitik der letzten Jahre haben sich vor allem die Fed aber auch die EZB durchaus flexibel gezeigt in den letzten Wochen und Monaten, was für Inflationswachsamkeit spricht.

Zudem verfügen Notenbanken derzeit im Gegensatz zu der Zeit vor 50 Jahren über viele klarere (Markt-)Signale in Bezug auf die Inflationserwartungen. Dies gilt vor allem am (internationalen) Finanzmarkt. Und hier sind noch keine Anzeichen einer Nicht-Verankerung erkennbar. Allerdings ist Wachsamkeit angezeigt und wir erwarten uns, falls notwendig, deutliche Signale – und oder Kehrtwenden, wie wir sie teils schon bei der Fed und EZB gesehen haben. Wir denken nicht, dass die führenden globalen Notenbanken Dekaden in die Verankerung der Inflationserwartungen investiert haben, um nun diesen gesamtwirtschaftlichen und -gesellschaftlich wichtigen Fortschritt einfach zu verschenken.

Unterschiede heute und 1970er Jahre

Es gibt zudem auch einige mäßigende Faktoren im Vergleich zu den 1970ern. Etwa sind die Wirtschaftsstrukturen heute andere als vor 50 Jahren. Die Wirtschaft Anfang der 70er Jahre war weitaus stärker geprägt vom Industriesektor, der es gewohnt war, auf günstiges und vor allem preisstabiles Öl zuzugreifen. Die führenden Industrieländer sind heute weniger abhängig von Rohölpreisen und den Industriesektoren, was geringere Wachstumseinbußen und Inflationsspitzen implizieren könnte. Weiters ist der Ölpreisschock derzeit sogar noch moderater als Mitte und Ende der 1970er Jahre. Seither haben Unternehmer lernen müssen mit starken Preisausschlägen zu leben, auch wenn Preishöhenflüge noch immer schmerzen. Insofern ist der aktuelle Energiepreisschock nicht gleich dem Energiepreisschock von damals. Der Lohnbildungsprozess hat sich sicher auch nachhaltig verändert. Sowohl das bessere Verständnis des Preisgeschehens auf der Arbeitnehmerseite als auch die weitaus intensivere Wettbewerbssituation auf Güter- und Arbeitsmärkten reduziert das Ausmaß der inflationsverlängernden Zweitrundeneffekte bzw. von Preisauftriebsspiralen. Auch ist die Bedeutung der tariflich fixierten Löhne in den letzten Jahrzehnten eher gesunken. Des Weiteren starten wir in die aktuelle Phase eben mit noch gut verankerten Inflationserwartungen und vor allem in Europa moderaten Lohnsteigerungen.

Allerdings deutet sich auch zunehmender Preisdruck durch weitere Engpässe bei anderen Energieträgern, im Agrarbereich, bei weiteren Inputfaktoren und durch Lieferkettenfriktionen an. Insofern sind mittelfristige Inflationsrisiken nicht zu unterschätzen, wie wir auch mit unserer Inflationsprognose für 2023 ausdrücken. Hier sehen wir die Inflation im Euroraum und Österreich nochmals klar über 3 %. Zumal sich einige strukturell preistreibende Faktoren in den nächsten Jahren eventuell noch verschärfen könnten (alternde Bevölkerung in den etablierten Volkswirtschaften) und neue Faktoren dazugekommen sind (z.B. Abkehr von maximal preiseffizienten hin zu robusteren Lieferketten, Kosten der Klimapolitik). Allerdings sehen wir, wie zuvor ausgeführt, die führenden Notenbanken und auch die EZB nicht als „inflationsblind“ an. Insofern deutet nicht unbedingt alles auf eine eins-zu-eins Wiederholung des Inflations- und Stagflationsszenarios wie in den 1970er Jahren hin.

Beim Realzins erstmal zurück in die 1970er, dann bleiben wir wohl in den 2010er Jahren gefangen

Prinzipiell ist die sich abzeichnende geldpolitische Wende der EZB angezeigt und zu begrüßen. Allerdings gilt auch: Trotz vorsichtiger geldpolitischer Wende der EZB noch heuer und vielleicht auch weiterer Zinserhöhungen im kommenden Jahr könnten die Realzinsen im Sinne der Geldmarktsätze bzw. die Sparzinsen abzüglich der Inflation auf ein Niveau der 1970er Jahre zurückfallen. Damit gilt überspitzt formuliert, dass wir gesamtwirtschaftlich vielleicht nicht in ein 1970er Szenario zurückfallen, für die Sparer kann es sich aber sehr ähnlich anfühlen. Nach dem wahrscheinlichen Inflationshöhepunkt in Europa in den Jahren 2022 und 2023 (mit tief negativen Realzinse)n erwarten wir uns weiterhin keine Entspannung bei den Realzinsen und erwarten uns eher ein Umfeld wie in den Jahren 2009 bis 2020 mit moderat negativen Realzinsen. Eine Rückkehr zu positiven Realzinsen erscheint uns im Euroraum kaum möglich, wo der zinspolitische Spielraum begrenzter sein sollte als in den USA.

Realzinsen Österreich: Aktuell und 1970er*
Statistik Austria, OeNB, RBI/Raiffeisen Research
* Letzter Datenpunkt Februar 2022, ** Langfristiger Realzins in Österreich bei -0,3 %
Langfristige Inflationsraten Österreich & Prognose 2022/23
Statistik Austria, RBI/Raiffeisen Research
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Gunter DEUBER

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Gunter Deuber leitet seit 1. Jänner 2021 den Bereich Volkswirtschaft und Finanzanalyse (Raiffeisen Research) in der Raiffeisen Bank International (RBI). Seit 2011 ist Gunter Deuber in leitender Position im Volkswirtschafts- und CEE-Research der RBI tätig und hat die Zusammenarbeit mit seinen Research-Kollegen in den Tochterbanken der RBI in CEE kontinuierlich ausgebaut. Seit Anfang der 2000er Jahre analysiert er Volkswirtschaften, Bankensektoren und Marktthemen mit Fokus auf CEE- und EU/Euro-Themen für die RBI in Wien, aber auch im internationalen (Investment-)Banking-Kontext in Frankfurt. Er präsentiert die Sicht von Raiffeisen Research und seines Analyseteams regelmäßig auf Investoren- und Kundenveranstaltungen. Er ist ein gefragter Redner auf zentralen Veranstaltungen der Finanz- und Bankenbranche und Gastlektor an mehreren Universitäten/Lehranstalten. Im Jahr 2019 wurde er für das IVLP (International Visitor Leadership Program) des US-Außenministeriums nominiert. Gunter hat mehrere Sammelbände zu Euro-/EU-Krisenthemen veröffentlicht und diverse Artikel in Fachzeitschriften und Branchenmagazinen publiziert. Außerhalb des Büros genießt Gunter das Reisen mit seiner Familie und das Langstreckenlaufen.